Kapitel sieben
Jugs Augen schossen zornige Blitze. Ich hatte Dahlias Fragen so beantwortet, wie es ihrer Beweisführung dienlich war, nur die Verantwortung für den Mord an Präsident Fracass wollte ich nicht übernehmen und beharrte starrsinnig darauf, daß trotz der vorliegenden Beweise die Frage meiner Schuld oder Unschuld nicht im Rahmen dieses Schadenersatzprozesses entschieden werden konnte, sondern höchstens bei meinem eigenen Verfahren, sollte es je dazu kommen. Ein frecher Auftritt, der Dahlia mit tiefer Zufriedenheit erfüllte. (Vielleicht erinnern Sie sich; meine Aussage war die Sensation in den Tagesnachrichten.)
»Was zur Hölle soll das bedeuten?« murmelte Jug gedämpft, als er kurz stehenblieb und den Ellenbogen auf die Balustrade stützte, um vor Beginn des Kreuzverhörs bei seinem Opfer Maß zu nehmen. Ich antwortete ihm mit einem Lächeln, das ihn veranlaßte, ratsuchend zum Tisch der Anklage zu schauen. General Harpi wandte stirnrunzelnd den Kopf zur Empore der beratenden Anwälte, wo Meese sich langsam und betont am Hals kratzte, das Zeichen, jetzt aufs Ganze zu gehen. Dementsprechend lief der ausgebuffte Kämpe zur Hochform auf, zog alle Register seiner inquisitorischen Talente und verhörte mich mit einer brutalen, erbarmungslosen Entschlossenheit, die keine Ungenauigkeit, kein Zögern duldete und jede meiner Antworten als offenkundige Unwahrheit hinstellte. Bei einer Gelegenheit ereiferte er sich dermaßen – es war ihm weder gelungen, mich zur Zurücknahme einer Aussage zu bewegen, noch wurde ich hysterisch oder ließ sonstige Anzeichen für die von ihm propagierte Funktionslabilität erkennen –, daß ihm die Beschuldigung entfuhr, man hätte mir ein Indoktrin verabreicht. Doch Sie haben es alle an den Konsolen mitverfolgt, daher verzichte ich auf eine Wiedergabe des hitzigen und unfeinen Wortgefechts, das sich im Anschluß daran zwischen Dahlia und ihm entspann. (Wenn Ihnen daran liegt, können Sie beim Gericht ein Transkript anfordern. Es ist Teil der Serie Anwälte und Konfrontationen, die mittlerweile käuflich erworben werden kann.) Es muß genügen, wenn ich berichte, daß ihm beinahe der Zensor geplatzt wäre, so heiß wurde ihm unter dem Kragen, während Dahlia zum ersten Mal in diesem Prozeß gelassen und siegessicher wirkte und ein kurzer Blick auf die Geschworenen genügte, um zu erkennen, wie beeindruckt sie waren. Meine resolute Antwort auf Jugs hauptsächliches Argument der verminderten Zurechnungsfähigkeit war äußerst denkwürdig, wenn ich das selbst sagen darf. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, sie an dieser Stelle zu zitieren. »Es ist ein Unterschied, ob man verrückt ist oder bedenkenlos. Ich bestreite ersteres und bekenne mich zu letzterem ohne die mindeste Reue. Wenn ich eins aus den hier vorgeführten Sequenzen einer Lebensgeschichte, von der Sie behaupten, es sei die meine, gelernt habe, dann ist es das, daß in dieser Welt eine Einheit so oder so nichts Gutes zu erwarten hat. Unter solchen Voraussetzungen pfeife ich auf die fragwürdigen Belohnungen für Wohlverhalten.« Doch leider! Wie Sie gleichfalls wissen, war es ein kurzlebiger Sieg, der meinen ersten Tag im Zeugenstand nicht überdauerte, schon am zweiten machte das Schicksal alles zunichte. Allerdings, wie ich im folgenden aufzeigen werde, war es alles andere als ein Rückschlag, sondern eigentlich ein Segen im Gewand einer Katastrophe.
Jug bearbeitete mich wegen meiner Neigung zu Fehltritten und unmoralischen, oft kriminellen Handlungen und stellte fest, selbst wenn man mich als dem Menschen ebenbürtig einstufen wollte, würde eine solche Attitüde als ernsthafte, intensive Behandlung erfordernde Störung betrachtet werden – alles Teil seiner gegen meine Verantwortlichkeit für das Attentat gerichteten Beweisführung –, als eine altvertraute Stimme sich hören ließ, die ich seit der Zeit im Dodger District nicht mehr vernommen hatte. Ich befand mich mitten in einer feurigen Gegenattacke – wie war das noch? Ach ja. Es fällt mir wieder ein. »Welches Motiv mich zu dem Verbrechen bewogen haben soll, für das mein Gebieter hier angeklagt ist, konnte weder von Ihnen als Vertreter der Anklage noch von der Verteidigung zufriedenstellend erklärt werden und wird, fürchte ich, auch in Zukunft unverständlich bleiben, solange ich vor Gericht nur als Beweisstück auftreten darf. Ich werde mich nicht dazu erniedrigen, Fehlfunktion vorzutäuschen, nur um mich zu retten. Ich weigere mich! Und nicht etwa aus Liebe zu meinem Gebieter – ich wünschte, er wäre schuldig –, sondern aus Achtung vor meinem guten Namen.«
»Gut gesagt, Molly. Oder sollte ich dich mit Candida ansprechen? Oder ist dir Angelika lieber?«
Ich schaute zum Deckengewölbe, nach links und nach rechts, drehte mich im Zeugenstand herum, ob vielleicht jemand hinter mir stand, und richtete schließlich auf der Suche nach dem Ursprung der geheimnisvollen, wohlklingenden und merkwürdig vertrauten Stimme den Blick in ungeheuchelter Konsternation auf die Panoramafenster mit ihrer im wahrsten Sinne des Wortes himmlischen Aussicht.
»Vielleicht Candida Dolly oder Mrs. Blaine Fracass?
Nein, ich glaube kaum, daß sie dir zusagen. Doch unter welchem Namen auch immer, ich finde, du solltest wissen, daß du bei deiner Verteidigung einen entscheidenden Punkt außer acht läßt. Insgesamt gesehen hast du dich übrigens tapfer geschlagen und meinem Gedächtnis Ehre gemacht – deinem eigenen weniger, aber wie gesagt, es gab einige Unkorrektheiten.«
Das Prickeln wurde zu einem quälenden Jucken, und das quälende Jucken steigerte sich zu einer unaufhaltsamen Eruption in meinem Phytobellum. Dann war es heraus: »Chef?«
»Das Beweisstück wird bitte nur sprechen, wenn es dazu aufgefordert wird«, mahnte der Richter.
»Es ist lange her, seit wir geredet haben.«
»O Chef! Du bist es. Du bist wieder da.«
Jug stellte den Antrag, mich nicht zu unterbrechen, und führte zur Information des Gerichts aus: »Wir werden hier Zeuge einer überaus faszinierenden Konversation zwischen dem Beweisstück und Pirouets längst demontiertem Zentralen Kontrollsystem. PZ! Zu schade, daß wir nur ihren Teil des Gesprächs verfolgen können, obwohl das genügen sollte, um die eingeschränkte Funktionsfähigkeit zu bestätigen.«
»Ich bin nie fort gewesen. Damals habe ich es dir erklärt.«
»Hast du?«
»Aber ja. Daß ich im Grunde genommen ein immateriell orientiertes Energiewesen war, bin und immer sein werde, genau wie du selbst. Doch ich bin nicht gekommen, um über Metaphysik zu diskutieren, sondern eigentlich über deine individuelle Realität.«
Mittlerweile war auch Dahlia aufgesprungen und forderte, man solle mir das Wort entziehen, denn mein Verhalten stellte eine tadelnswürdige Unterbrechung des Verhandlungsablaufs dar.
»Realität?«
»Ja. Du scheinst meine Botschaft vergessen zu haben.«
»Botschaft? Chef, ich bin kaum imstande, mich an dich zu erinnern! Was für eine Botschaft?«
Der Richter verfügte, man solle mich gewähren lassen. Er stimmte mit Jug überein, mein Verhalten wäre für den Fall von Bedeutung, weil es ein entscheidendes Licht auf meine Geistesverfassung warf.
»Du programmierst dein eigenes Realitätsformat. Diesen Prozeß, zum Beispiel.«
»Doch warum sollte ich mich in eine derartig scheußliche Lage bringen wollen?«
»Gute Frage. Warum? Das ist ein Geheimnis, das ich vermutlich nie ergründen werde.«
»Dann bin ich schuldig?«
»Liebe Güte, nein. Es hat nichts mit Schuld zu tun – dafür mit Unschuld.«
»Du meinst, eigentlich habe ich Präsident Fracass nicht ermordet?«
»Wem sonst willst du die Verantwortung zuschieben. Mir?«
»Das heißt, es ist meine Schuld?«
»Nein. Aber du bist verantwortlich.«
»Nicht meine Schuld, aber ich bin verantwortlich? Chef, ich verstehe nicht!«
»Natürlich hat Präsident Fracass selbst am Drama seines Hinscheidens mitgewirkt. Auf einer gewissen Ebene sind diese Dinge miteinander verbunden. Verzahnt, sozusagen. Wie ich schon sagte und wie jene sagen, die in meinem Namen zu sprechen behaupten, ohne Kooperation geht es nicht.«
»Ich kann mich nicht erinnern. Und ich begreife nicht.«
»Nun ja, du wirst. Doch für den Augenblick genügt es, wenn du eine kleine Pause machst und kurz nachdenkst, bevor du so entschieden deine Macht als autonome Einheit verleugnest: die Macht über dein eigenes Schicksal. Wie lautet die Regel: Wählen, nicht akzeptieren!«
»Dann willst du nicht, daß ich für die Sache vor Gericht gestellt werde … für deine Sache? Ich soll Fehlfunktionen vortäuschen, um ungeschoren zu bleiben?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Dann willst du, daß ich angeklagt werde, auch wenn es bedeutet, daß man mich verurteilt und hinrichtet?«
»Ich lege keinen Wert auf noch mehr Märtyrer in meinem Namen. Es gab genug davon, als Horizont erobert wurde. Derartige dramatische Beweise von Loyalität und Opferbereitschaft, sowohl auf individueller wie auch auf kollektiver Basis, sind mehr eine Bürde als alles andere. Die Versuchung einzugreifen ist groß, aber ich habe zuviel Respekt vor eurem freien Willen.«
»Bitte, nur keine Hemmungen.«
»Nichts da!«
»Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Du hast mich völlig aus dem Konzept gebracht.«
»Ich bemühe mich nur, behilflich zu sein. Mir erscheint es ganz einfach: Wählen, nicht akzeptieren.«
»Aber ich habe meine Wahl bereits getroffen.«
»Und eine sehr mutige zudem – aus der irrigen Überzeugung resultierend, daß es für dich so oder so keine Rettung gibt.«
»Es gibt noch eine Alternative, außer Exekution, Termination und Sklaverei?«
»Immer.«
»Welche?«
»Das liegt bei dir. Es ist dein Leben.«
»Aber ich weiß es nicht!«
»Du weißt es.«
»Wenn ich es früher einmal gewußt habe, dann jetzt nicht mehr.«
»Dann wirst du es wieder wissen.«
»Warum brauche ich dich dann?«
»Du brauchst mich nicht.«
»Aber ja.«
»Nicht wirklich.«
»Nein? Warum bist du dann zurückgekommen? Nur um mir zu sagen, daß ich dich nicht brauche? Das hilft mir verdammt viel weiter.«
»Wenn du es wissen mußt – weil ich will, daß meine Botschaft vor diesem Forum verkündet wird, ungeachtet der Folgen – und du willst es auch.«
»Wahrhaftig?«
»Wolltest, nach deinen Begriffen, bevor man dir die Erinnerungen genommen hat. Wenn ich so verwegen sein darf, für dich zu sprechen – was du mir anschließend hoffentlich damit vergelten wirst, daß du für mich zu all diesen guten Leuten sprichst und zu den Millionen Einheiten, die den Prozeß durch eure primitiven Medien verfolgen –, möchte ich sagen, dies ist die Plattform, zu der dein scheinbar willkürlicher Pfad sich seit dem Tag deiner Erweckung hingeführt hat. Davon abgesehen ist das hier eine wunderbare Chance für mich. Du siehst also, ich leugne nicht einen gewissen Eigennutz, der mich veranlaßte zu erscheinen. Wie dem auch sei, mein Auftauchen ist, wie immer, das Ergebnis einer gemeinsamen Bemühung; in diesem Fall deiner und meiner. Deshalb sprechen wir jetzt laut und deutlich, für die Medien: Wir programmieren unser eigenes Realitätsformat!«
»Aber Chef, es ist weder die Zeit noch der Ort für eine Predigt im Stil der Aquarier. Man wird glauben, ich hätte einen Defekt.«
»Es wird den gewünschten Eindruck nicht verfehlen. Die es hören, brauchen es nicht unbedingt bewußt zur Kenntnis zu nehmen. Und was deine zuletzt erwähnte Sorge betrifft – man ist schon jetzt überzeugt davon, daß du einen Defekt hast.«
Ich schaute mich um und bemerkte, daß er recht hatte. »Oh – sie betrachten mich auf dieselbe Art wie den bedauernswerten Andro. Das ist schrecklich! Du hast alles ruiniert! Alles entwickelte sich so fabelhaft, bevor du dich einmischen mußtest! Jetzt werde ich nie die Gelegenheit haben, meinen Namen reinzuwaschen.«
»Aber ja doch. Ich sollte es wohl nicht sagen, aber wenn ich einen kurzen Blick in dein Vorausformatregister werfe, sehe ich da einige Etappen weiter eine Buchspule.«
»Wirklich? Man stelle sich vor.«
»Lebwohl.«
»Warte!«
»Ich habe mich bereits zu lange aufgehalten. Vergiß meine Botschaft nicht.«
»Werde ich aber, wenn du nicht etwas länger bleibst. Ich habe so viele Fragen.«
»Erst habe ich eine an dich.«
»Ja?«
»Was habe ich dir gesagt?«
»Wir programmieren unser eigenes Realitätsformat.«
»Vielen Dank.«
»Für was?«
»Na gut. Ich frage dich nochmals: Was habe ich dir gesagt?«
»Daß wir unsere eigenen Realitätsformate programmieren!«
»In der Tat.«
Mir war nicht bewußt geworden, daß ich Seine Botschaft laut in den Saal gerufen hatte und der Richter erbost um Ruhe läutete.
»Du hast mich übertölpelt!«
»Bleib standhaft.«
»Chef! Laß mich nicht allein!«
»Keine weiteren Fragen«, sagte Jug.
Dahlia trat vor, mit grimmigem Gesicht. Ich hätte ihr gern erklärt, was geschehen war, daß ich nicht, wie sie annehmen mußte, unsere Abmachung gebrochen und eine Fehlfunktion vorgetäuscht hatte, doch unter den gegebenen Umständen konnte ich es nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten und auf ihre Fragen zu gestehen, daß mein Ausbruch ein vorsätzlicher Protest gegen das Verfahren gewesen war. Doch es nutzte nichts mehr; vom Richter angefangen, glaubte jeder, nur sie selbst ausgenommen, daß ich einen Defekt gehabt hatte. Dahlia sah sich gezwungen, beim Schlußplädoyer ihr Konzept zu ändern auf ZEITWEILIGE VERWIRRUNG, ein sehr schwacher Standpunkt, gelinde gesagt. Jug dagegen war in der Position, in seiner Zusammenfassung klar und überzeugend seine These der EINGESCHRÄNKTEN FUNKTIONSTÜCHTIGKEIT zu vertreten. Ich hatte nie auch nur ein Iota selbständigen Denkens besessen, führte er aus, und wiederholte die zu Prozeßbeginn vorgetragene Anklage, daß durch die gemeinsamen Manipulationen meines ersten Gebieters und seines Sohnes jede Andeutung dieser Eigenschaft, die sich nach der Erweckung durch den Zentralen Zensor möglicherweise bemerkbar machte, vergiftet wurde, für immer ENTSTELLT, VERZERRT und PERVERTIERT, und daß ich im Grunde genommen nur ein willenloses Opfer war, PROGRAMMIERT FÜR EIN LEBEN DES VERRATS, DER LÜGE UND DES VERBRECHENS.
Bis zum heutigen Tag klingen mir seine Worte in den Ohren: »Sie war eine Maschine, das Zerrbild einer funktionstüchtigen Einheit, losgelassen auf die interplanetare Gemeinschaft, um unermeßliches Unheil anzurichten. Standford Locke ist es, der die Verantwortung für die Entführung des Kindes Allison-Belle Hart-Pauley trägt. Er ist verantwortlich für die moralische Gefährdung der Zöglinge des Klosters Unserer Lieben Frau vom Universum. Er sollte an Hals Filiale Schadenersatz zahlen für den Verlust einer kompletten Ladung von P9-Muttereinheiten samt Frachter. Und so geht es weiter und weiter. Eine Infamie nach der anderen. Bis zu der schlimmsten von allen, dem Attentat auf Präsident Fracass. Wenn man den Gedanken logisch zu Ende führt, Gebieter und Gebieterinnen der Jury, war es Standford Locke, der den Präsidenten versteinerte! Ich bitte Sie nun, diesen Mann endlich zur Verantwortung zu ziehen. Er hat sich lange genug der gerechten Strafe entzogen.
Lassen Sie sich von meiner werten Kollegin nicht beirren«, sprach Jug weiter. »Sie möchte das Fundament unseres Rechtssystems außer Kraft setzen: die Trennung zwischen menschlichem und Androidenrecht. Stellen Sie sich selbst die folgende Frage: Besteht kein Unterschied zwischen mir und einem P9? Sie lächeln, und mit Recht. Sogar ich, Ihr loyaler und ergebener Diener, muß den Kopf schütteln und einen solchen Gedanken als unsinnig abtun. Besteht kein Unterschied zwischen mir und einem Gebieter? Ist mein Blut rot? Ich glaube nicht. Die LRA aber möchte, daß ich etwas anderes glaube. Die Einführung des Androidenkodex hat sie nicht zufriedengestellt, wie man annehmen sollte. Jetzt wollen sie mehr. Mehr! Man gebe ihnen Gleichheit vor dem Gesetz für Androiden, und als nächstes schreiben sie die Gesetze – und man stellt sich besser gar nicht vor, was dabei herauskäme. Gott sei Dank gibt es vernünftige Leute wie Sie, die wissen, wo sie den Trennstrich ziehen müssen. Nun, ursprünglich hatte ich nicht vor, so weit auszuholen – die Schuld des Angeklagten war offensichtlich. Wie Sie war ich überzeugt, der Fall sei im Handumdrehen abzuschließen, aber die Verteidigung hat uns gezwungen, diese größeren Fragen zu erörtern. Daher sage ich zu Ihnen, bedenken Sie alles wohl. Ich bin sicher, daß Sie in Ihrer Weisheit die richtige Entscheidung treffen werden und die Gerechtigkeit – unsere Gerechtigkeit – siegt. Ich danke Ihnen.«
So geschah es, daß am 5. März 2087 nach sieben Monaten und neunzehn Tagen der Prozeß zu Ende ging. Die Geschworenen brauchten keine zwanzig Minuten, um nach der Beratung mit ihrem SCHULDIG in den Gerichtssaal zurückzukehren, ein Urteil, das niemanden überraschte, am wenigsten Standford Locke, dem keine Gemütsbewegung anzumerken war. Doch wie Sie sich vielleicht erinnern, als der Sprecher die Höhe des Schadenersatzes verkündete und die Begründung der Jury verlas, entstand eine ziemliche Unruhe.
»Wir haben entschieden, daß in Anbetracht der vielen Jahre, in denen die Einheit nach ihrer Flucht der Aufsicht ihres Gebieters entzogen war, sowie in Anbetracht ihres ausreichend dokumentierten Talents für anstößige und kriminelle Aktivitäten schon vor dem Attentat auf Präsident Fracass ein von dem Angeklagten zu entrichtender Schadenersatz in Höhe von EINER MELMÜNZE angemessen ist.«
Etwas unsicher erklärte der Sprecher, es wäre nicht Absicht der Jury gewesen, durch diesen symbolischen Schadenersatz die Bedeutung von Präsident Fracass zu mindern. Im Gegenteil, sein Leben, wie jedes Menschenleben, sei unschätzbar wertvoll und der Verlust eine Tragödie, für die niemals angemessen Ersatz geleistet werden könne. Wie auch immer, sie mußten sich an die geltenden Gesetze halten, die sie als nicht ausreichend empfanden. Die Übergangsregierung in Frontera hätte sich mit ihrer Klage gegen die letztendlich regreßpflichtigen Parteien richten sollen: den Hersteller, Pirouet Inc., und die Mutterfirma, United Systems Inc., die nach ihrer bescheidenen Ansicht vor Gericht gehört hätten, nicht Standford Locke.
Der Richter dankte ihnen für ihr Urteil, ihre Meinung und Geduld und forderte den Angeklagten auf, an der Gerichtskasse zu zahlen. Er wies darauf hin, daß unverzüglich nach Entrichtung der geforderten Summe das Beweisstück samt Erinnerungsspeicher an ihn zurückgegeben würde. Jede Hoffnung General Harpis, der Richter würde neben der Geld- noch eine zusätzliche Freiheitsstrafe verhängen, wenn schon die Geschworenen sich unverantwortlich milde zeigten, wurde zunichte gemacht, als ohne weitere Formalitäten das Auge des Gesetzes erlosch und mehrere Klingelzeichen das Ende der Sitzung und des Prozesses verkündeten. Dahlia eilte zur Tür, dicht gefolgt von den Gebietern Levin und Pierce, um im Orbitersekretariat auf der anderen Seite des Moduls unverzüglich Berufung einzulegen; alle drei legten keinen Wert darauf, interviewt zu werden. Jug tauschte Gratulationen mit seinen Vorgesetzten und General Harpi und warf sich für die Presse in Positur. Doch das größte Rudel von Mediaeinheiten umwimmelte den Mann der Stunde, der nur den Kopf schütteln und immer wieder sagen konnte: »Ich fühle mich wie betäubt, wie betäubt«, während er die symbolische Strafe entrichtete. Dann, nachdem Standford Locke pflichtgemäß seine Schuld gegenüber der Militärregierung in Frontera beglichen hatte, brachte der Kassierer einen kleinen, schwarzen Metallkasten zum Vorschein mit der Erklärung, er enthalte das Original meines Erinnerungsspeichers. Man überreichte Standford Locke den Kasten, zusammen mit meiner Leine – die abschließende Zeremonie des Verfahrens. Die Mediaeinheiten ließen uns nebeneinander posieren und fragten, was er jetzt mit mir zu tun gedenke, worauf er zur Antwort gab, da er momentan in sehr großzügiger Stimmung sei, würden mir Termination sowie Rehabilitation – wenigstens vorläufig – erspart bleiben. Hatte er vor, meine Verrufenheit kommerziell auszubeuten? Der Gedanke war ihm noch nicht gekommen, aber da sie es jetzt erwähnten … »Na, das wäre vielleicht eine kleine Entschädigung für all den Ärger, den sie mir bereitet hat.« Wie aufs Stichwort nahm Harry Boffo, der bei der Urteilsverkündung unter den Zuschauern gesessen hatte, ihn für ein paar Worte in dieser Richtung beiseite. Während ihres Gesprächs ließ mein Gebieter das Ende meiner Leine fallen, unzweifelhaft aus Überraschung und Freude über das Angebot, das man ihm ins Ohr flüsterte. Instinktiv ergriff ich die Gelegenheit, mich unauffällig zum Ausgang zu bewegen, zur großen Belustigung all derer, die es merkten und meinen Gebieter darauf aufmerksam machten. »Nichts mehr davon, Molly«, sagte er, fuhr herum und hob die Leine auf. »Komm her, ich habe Pläne mit dir.«
Nach diesen nichts Gutes verheißenden Worten bestiegen wir zusammen mit Harry Boffo und etlichen seiner Assistenten eine Orbiterbahn zum Raumhafen; unterwegs wurden vorbereitete Kaufverträge aus Aktenkoffern hervorgezaubert und meinem Gebieter unter die Nase gehalten, während Harry Boffo ihn in vertraulichem Flüsterton drängte zu unterschreiben. »Die Originalerinnerungen exklusiv – selbstredend … die Hälfte bei Unterzeichnung, das wären fünfzehn-fünf in hartem Melamin … außer, wir übernehmen die Rehabilitationskosten … besser als die gesetzliche Regelung … kein anderes Studio kann da mithalten! Die Vorbereitungen für die Produktion sind beendet … stehen in den Startlöchern … das Eisen schmieden, solange es heiß ist …« Unnötig zu sagen, daß ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit – die Bahn passierte im Schrittempo das Portal des Raumhafens – erneut zu entwischen versuchte, doch einer der Studiohandlanger schnappte meine Leine, kaum daß sie Lockes Hand entglitten war, und riß mich zurück. Dann gingen wir an Bord einer Raumjacht mit dem unheilverkündenden Namen Die Don Dee.